Der Spiegel

In der schweren Zeit lebte ich in einer Wohnung, die mich nur mangelhaft vor den Geräuschen der angrenzenden Unterkünfte schützte. Sie hatte eine niedrige Decke, und die Tapete bedrückte mich, weil sie mit roten Flecken übersprenkelt war. Jeden Abend im Bett flüsterte ich mir zu: "Ich liebe dich. Hab' keine Angst. Sei nicht traurig." Dabei streichelte ich mir die Arme und das Gesicht.
Auch war es mein Ritual, jeden Abend mit dem Badspiegel zu sprechen. Ich rechtfertigte mich für alles, was geschehen war: "Es ist die Schuld der Vera Gotzmann gewesen", erklärte ich. "Sie hat ihr das Lügenmärchen aufgetischt, daß sie, die Vera, und ich etwas miteinander hätten, und Marie hat ihr geglaubt. Als Vera gegangen und Marie ganz allein mit sich war … da hat sie an die Messer im Küchenschrank gedacht."
Derlei Monologe verwandelten sich in Gebete, denn ich benannte zuerst Gott als Zeugen meiner Unschuld, sprach dann aber mit dem Herrn selbst und erklärte Ihm, jede Buße, die Er mir auferlegen wolle, gern zu ertragen, sollte doch eine Schuld mich treffen.
Gott verzog das Gesicht und lächelte spöttisch.
"Es kommt Mir nicht darauf an, ob du die Strafe gern oder ungern erträgst", sagte Er, und ich duckte mich unter dieser Zurechtweisung, die zweifellos eine eigene Strafe nach sich ziehen würde.
Aus Moogs Wohnung drang ein lauter Ruf, der nicht zu verstehen war.
Der Alte, dachte ich, hat bös' geträumt. Er ist aufgewacht und hat das Licht angeschaltet, er glaubt, verrückt zu werden.
Ich verstand seine Angst. Auch ich wußte, was Verzweiflung war, und in meinen Träumen erblickte ich im Badspiegel Marie, deren Arme und Wangen mit Bißmalen übersät waren. Ich fragte, was ihr passiert sei, aber sie wollte es mir nicht sagen, sondern schüttelte nur den Kopf und hielt sich den Zeigefinger vor den Mund, wobei sie mit den Augen hinter sich deutete.
Dort saß ihre Mutter am Küchentisch und aß. Sie lachte in einem fort, ihr Mund war rot verschmiert. Marie trat ein wenig beiseite, so daß ich einen besseren Blick gewann, und ich sah, daß ihr Vater gleichfalls am Tische saß und von Heiterkeit und Eßlust ergriffen war. Kichernd bohrte er seine spitzen Zähne in ein Stück Fleisch.



Maleks Versteck

Als sein Vater starb, war Thomas Malek dreißig Jahre alt. Er erbte das Lebensmittelgeschäft und blieb ohne Verwandtschaft auf der Welt zurück. Nur eine Vetterin war am Leben, Lidia Paulina, die gleichfalls ein Zwerg war, und sie heirateten einander.
Paulina hatte schwarze Augen, trug ihr dunkles Haar fast immer zu einem Zopf geflochten und war, anders als die meisten Zwerge, durchaus nicht häßlich. Überdies läßt sich selbst in den Umarmungen einer winzigen Frau viel Vergnügen finden.
Malek liebte Paulina. Wenn er nachts im Bett lag und auf ihren ruhigen Atem horchte, überkam ihn fast schmerzlich das Bewußtsein seines Glücks; und der Gedanke quälte ihn, daß es nicht von Dauer sein werde. Jede Lust, wußte der Händler, findet ihr Ende, und die Erinnerung an die verlorene Seligkeit gebärt die Pein. Das Glück ist für jedermann nur das Vorspiel der Marter. Doch um wieviel mehr bedrückt es eines Zwergen Kinderherz!
Malek hütete seine Frau, die er am Tag nicht aus den Augen ließ; und ging er abends außer Haus, um sich zu betrinken – denn der Alkohol beschwichtigte seine Furcht –, band er sie mit einem Strick ans Bett, um ihr keine Gelegenheit zum Ehebruch zu geben. Solcherart hoffte er, der Vergänglichkeit des Glücks ein Schnippchen zu schlagen.
Der Händler arbeitete fleißig, feilschte unbarmherzig, wenn er auf dem Großmarkt frische Lebensmittel erwarb, und sein Geschäft hatte viele treue Kunden, zumal sich diese bei jedem Besuch des Ladens der dreifachen Freude hingeben konnten, billig einzukaufen, mißgestalteten Menschen ein Auskommen zu geben und die eigentümliche und zum Lachen reizende Geschäftigkeit der Zwerge zu beobachten.



Der Puppenmacher

Ein absurder Gedanke stieg in mir auf. Es kam mir vor, als hätte ich einst selbst bei dem Puppenmacher gelebt. Doch die Vorstellung ähnelte jenen schattenhaften Erinnerungen an die Kindheit, in denen man von Geistervolk umgeben ist und ein schwarzer Mann unter dem Bett mit den Zähnen knirscht.
Ich saß auf einem der Tische und spielte mit den Puppenaugen, die ich mir zum Vergnügen so in die gewölbte Hand zu drücken wußte, daß es aussah, als wüchsen sie zwischen den Fingern und aus dem Handteller hervor. Ich schloß und öffnete die Faust, die Augen blinzelten.
"Die Ringschrauben", brummte mein Vater, "gib sie mir."
Ich reichte ihm ein Pappschächtelchen, er faßte mit spitzen Fingern hinein, fischte eine Schraube um die andere heraus und drehte sie der Marionette in den Rumpf. Je länger er an ihr arbeitete, desto mehr ähnelte sie einem Menschen, der zerschmettert und in seine Einzelteile zerrissen war. Den Kopf hatte Papa beiseite gelegt: die Augen hatten einen starren Blick, und der Mund war aufgeklappt, so daß man im Unterkiefer die kleinen Zähne sehen konnte.
Zwischen den Rundhölzern, aus denen Arme und Beine gefertigt waren, klebte Vater kurze Lederstücke ein, die als Gelenke dienten. Schuhe und Soutane wurden dem mageren Leib angezogen, Hände an die Unterarme gesetzt und die Fäden mit einer Nadel durch die Kleidung geführt. Hier und da zeigte sich schon das Leben, denn die Hände bewegten sich mitunter von selbst, faßten sogar die Hand meines Vaters, um sogleich wieder auf den Tisch zurückzufallen. Der Kopf wurde eingehakt und wandte sich langsam zur Seite.
"Das Spielkreuz", verlangte Papa und sah auf die Uhr, die über dem Tisch an der Wand hing, denn Madame Vitus wollte schon in einer halben Stunde vorbeikommen, um die Marionette abzuholen.
Als die Puppe aufgebunden war, ließ der Vater sie über den Boden der Werkstatt schreiten, die Rechte zum Segen erhoben. Auch das Kreuz vermochte sie zu schlagen und mit einem winzigen Aspergill spritzte sie geweihtes Wasser über die toten Fliegen und Staubmäuse, die zu ihren Füßen lagen.
Das silberne Glöckchen über der Ladentür läutete hell. Der Pfarrer hielt in seinen frommen Übungen inne.
"Das wird sie sein", vermutete ich und deutete auf die Uhr, die im selben Augenblick Mittag schlug. Das Törchen sprang auf, ein Vogel hüpfte daraus hervor, hob seine Flügel und schrie zwölf Mal. Eine Schwinge war zerbrochen, und ein rostiger Draht ragte wie ein Knochen aus dem geschnitzten Gefieder. Die Farbe, mit der man das Tier einst bemalt hatte, war abgeblättert. Im Innern der Uhr knirschten Zahnräder ineinander.
Papa ging zur Tür, schob sie auf und führte den Geistlichen hindurch, der den Kopf senkte und mit den Perlen eines Rosenkranzes spielte.
"Du bist gebenedeit unter den Frauen", sagte er, "und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes …"
Madame Vitus roch nach dunklem Honig. Sie war ausnehmend schön und hatte ein sehr anziehendes Lachen, das ein Lied davon sang, was für ein Wunder an Gesundheit und Frische sie war. Der Busen war üppig, das braune Haar fiel ihr in reichen Locken über die Schultern, und in ihrem Blick funkelte etwas Ungreifbares, das die Seele meines Vaters erschreckt und mit Sehnsucht erfüllt hatte.
"Ausgezeichnet haben Sie das gemacht, Monsieur Mourguet", lobte Madame.