Hardcover mit Schutzumschlag, feines, säurefreies und alterungsbeständiges Werkdruckpapier, fadengeheftet, mit Lesebändchen, 140 Seiten.
Norderstedt (BoD) 2023, 26,00 €.
ISBN: 978-3756858941

Der Band enthält die Erzählungen:

Der Labrador
Der obere Stock
Der Einbrecher
Die Waffenrüstung des Herrn
Die Köstlichkeit
Der Obstdieb
Die Vorstellung
Das Seidentuch
Schlaf
Das Gurkenglas
Die Peinigung

Der obere Stock

Am Hang schaltete Nagel den Motor ab und ließ das Auto vors Haus rollen, wo er es mit einer raschen Rechts- und Linksdrehung des Lenkrads neben dem Bürgersteig zum Halten brachte. Vorsichtig öffnete er die Wagentür, weil diese, wenn sie zu rasch aufgedrückt wurde, ein verräterisches Quietschen hören ließ.
Sein Haus hatte zwei Stockwerke und lag in einer Reihe anderer, ähnlich gebauter, zweistöckiger Häuser, die jeweils ein Gärtchen vorn und hinten umgab. Allerdings erzählten alle anderen Gärtchen von der Aufmerksamkeit, die die Besitzer ihnen schenkten, während Nagels einen nahezu verwahrlosten Eindruck machte. Er tat nicht mehr als unbedingt erforderlich war, um sich wegen des Unkrauts keinen Ärger mit den Nachbarn einzuhandeln, und blieb ansonsten, wenn er nicht zur Arbeit mußte, im Haus, dessen stets verschlossene Gardinen jeden Blick in sein Inneres verwehrten.
Nagel war nicht entgangen, daß Frau Gilzer dabei war, die Rosen auszuputzen, die ihren Vorgarten ebenso schmückten wie ein kleiner Teich, in den unablässig ein grüner Keramikfrosch hineinspie. Gleichwohl hoffte er, unbehelligt sein Haus zu erreichen, indem er tat, als habe er sie nicht gesehen.
"Guten Abend", sagte die Nachbarin und winkte mit der Gartenschere über den Zaun.
Nagels erster Impuls war es, ohne auf sie zu achten, einfach weiterzueilen, aber er fürchtete, sie werde ihn laut beim Namen rufen.
"Guten Abend", antwortete er leise und trat auf sie zu. Frau Gilzer lächelte.
"Ist das nicht eine Pracht?" fragte sie und streichelte eine rote, noch geschlossene, eichelgroße Blüte, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
Nagel bejahte es.
"Das liegt daran, daß ich vor dem Austrieb viel zurückgeschnitten habe", erklärte sie und deutete mit dem Kinn auf die eigentümlich verkrüppelten und fast blütenlosen Rosenstöcke in Nagels Garten, die kaum mehr als solche zu erkennen waren und noch vom Vorbesitzer seines Hauses stammten. "Das hätten Sie auch tun sollen."
Nagel fragte sich ängstlich, wohin dieses Gespräch führen werde.
"Ich habe nicht viel Ahnung von Gartenarbeit", meinte er.
Frau Gilzer lächelte erneut.
Sie war eine schlanke, brünette Frau Mitte dreißig. Ihre Schönheit war dabei zu verblühen, wurde aber einstweilen noch durch die kleinen Fältchen unterstrichen, die sich in ihren Mund- und Augenwinkeln fanden. Gesunde Zähne schimmerten zwischen den Lippen hervor, und unter der roten Bluse wölbten sich kleine, spitze Brüste. Nagel betrachtete seine Schuhe.
"Ihr Kirschbaum könnte auch einen Schnitt vertragen", stellte sie fest.
Er gab einen unbestimmten Laut von sich, während er den Aktenkoffer in seiner Hand verlegen schaukelte.
"Gewiß. Ja. Aber die Kirschen sind jedes Jahr voller Würmer."
Er flüsterte, als vertraue er der Nachbarin ein Geheimnis an, und spürte, wie sehr er schwitzte. Es war ein heißer Tag, er stand im prallen Sonnenlicht, und er trug einen Anzug mit Krawatte, wie es den Bekleidungsvorschriften der Firma entsprach.
"Ein Garten macht viel Freude, wenn man ein bißchen Zeit investiert", behauptete Frau Gilzer. "Alles grünt und blüht. Und am Wochenende kann man sich in die Herrlichkeit mitten hineinsetzen."
Ein paar Wespen umsummten Nagel. Er hoffte, daß sie ihn nicht stechen würden, und bewegte sich nicht, um sie keinesfalls zu reizen.
"Und erst das Grillen", schwärmte Frau Gilzer. "Samstag in einer Woche mache ich eine Party. Kommen Sie doch vorbei. Ab 18 Uhr."
Nagel erschrak.
"Samstag … Samstag", sagte er und kniff sich in die Stirn. "Nein, ich fürchte, da hab' ich keine Zeit. Nein, nein", hauchte er und sah sich nach allen Seiten um, ganz als hoffe er, daß ihm von irgendwoher eine Hilfe zur Seite springe. "Nein, ich hab' viel, schrecklich viel zu tun. Ich muß mir sogar Arbeit mit nach Hause nehmen", fügte er hinzu und wies zum Beweis auf seinen Aktenkoffer.
"Essen müssen Sie trotzdem", erwiderte Frau Gilzer mit ihrem Sinn fürs Praktische, der geeignet war, jeden Einwand beiseite zu wischen. "Warum nicht eine Wurst? Oder ein Putenschnitzel?"
Nagels Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. Schon wollte er behaupten, an diesem Wochenende gar nicht daheim zu sein, aber Frau Gilzer würde seine Lüge erkennen, sobald er das Licht und den Fernseher einschaltete. Freilich konnte er den ganzen Abend still im Dunkeln sitzen, doch im oberen Stock würde trotzdem das Licht eingeschaltet werden. Ich könnte die Sicherung herausdrehen, dachte er.
"Ich werd' schauen, was möglich ist", sagte Nagel leise und wandte sich zum Gehen.
"Wenn Sie nicht freiwillig kommen, hol' ich Sie!" lachte Frau Gilzer, als er sein Haus betrat.
Eilig schloß er die Tür hinter sich.
Nagel war hager und von mittlerem Wuchs. Er ging auf die vierzig zu, sein Haar war an den Schläfen ergraut und der Ansatz schon ein wenig die Stirn hinaufgewandert. Die Augen waren auffällig groß.
Er hielt den Atem an und lauschte; aber nichts war zu hören als das feine Sirren des Kühlschranks, das aus der Küche drang. In der Luft hing ein Geruch nach Fäulnis und Urin.
Lautlos stellte er seine Tasche auf dem gefliesten Boden ab, schnürte sich die schwarzen Halbschuhe auf und entledigte sich vorsichtig seines Jacketts, das er zusammen mit der Hose auf einem Bügel in die Garderobe hängen wollte, als drei kleine Münzen, die er in eine der Taschen gesteckt hatte, herausfielen, um laut klirrend über die Fliesen zu springen.
"Ja, ich bin zurück", antwortete Nagel und schloß für einen Moment die Augen.



Der Obstdieb

In der Zelle herrschte ein Gestank nach Schweiß und warmem Haferbrei. Wir saßen alle beisammen, Frebel, Kowalski, der Bottich und ich selbst.
"Die Hälfte meines Napfs", lockte Kowalski. "Wenn du mich zu ihnen bringst, damit ich mich entschuldigen und um Vergebung bitten kann."
Der Bottich schielte auf das Essen, das weder gut noch reichlich war, aber er hatte einen weiten Magen.
"Den ganzen Napf", forderte er, "und dazu die Hälfte deiner Teevorräte."
"Dann werde ich den Brei selbst essen", drohte Kowalski und tauchte seinen Löffel hinein, als wolle er ihn verzehren. "Übrigens habe ich kaum noch Tee. Aber wenn mein Vater mir nächstens welchen schickt, werde ich dir ein Achtel geben."
Der feiste Mensch zögerte. Das eigene Essen hatte er verschlungen, ohne seinen Hunger zu stillen. Also schön, er willigte ein, ließ Kowalski die Hälfte des Breis in seinen Napf gießen, und wir anderen, die wir unser Essen aufgelöffelt hatten und ansonsten nichts mehr besaßen, womit wir selbst die Dienste des Bottichs erkaufen konnten, rückten näher, um die Hexerei zu beobachten. Morgen, vielleicht, würden wir uns eins seiner Wunder vom Mund absparen.
Doch ehe er beginnen konnte, klirrte ein Schlüsselbund, knackte das Schloß, die Tür fuhr auf, und der Direktor trat ein. Mit lauter Stimme befahl er mir, ihm zu folgen. Ich gehorchte ängstlich und ging mit ihm hinaus, in Erwartung einer Strafe. Da teilte er mir mit, daß ich rehabilitiert sei, daß man meine Unschuld erkannt habe, daß man mich aber bitte, einstweilen in Haft zu bleiben, um den wahren Mörder, dem man auf die Schliche gekommen sei, nicht zu alarmieren. Es könne sich nur um einige Wochen handeln, erklärte er, und das Glück überwältigte mich. "Wer ist es?" fragte ich.
Allezeit hatte ich meine Unschuld beteuert, aber niemand hatte mir geglaubt.
Das wisse er nicht, erklärte der Direktor, zwinkerte aber kaum merklich mit dem linken Auge, und ich begriff, daß er hierüber Stillschweigen bewahren müsse.
Nur ein paar Wochen, bat er in aller Höflichkeit.
So schnell ändern sich die Zeiten, dachte ich. Letzten Monat erst hatte er mir zwanzig Hiebe aufgebrummt, weil ich aus der Küche einen runzligen Apfel gestohlen hatte, aber heute lächelte er, wünschte mir Glück und reichte mir wie zur Entschuldigung die Hand.
Ich willigte ein, versprach auch, meinen Zellengenossen nicht zu verraten, was er mir eröffnet hatte, und der Direktor dankte mir im Namen der Polizei.
Ich kehrte in die Zelle zurück. Die Eisentür fiel ins Schloß.
"Was hat der Alte gewollt?" erkundigte sich Frebel.
"Nichts weiter", antwortete ich. "Er glaubt, daß er mich zu Unrecht bestraft und ein anderer das Obst gestohlen hat. Ob ich eine Vermutung hätte, wer es sei."
Von dem, was ich erfahren hatte, sagte ich nicht das kleinste Wort, zumal es mir nur die Mißgunst der anderen eingebracht hätte. Besonders Kowalski, den die eigene Tat auffraß, der über ihr halb verrückt geworden war, hätte mir keinen ruhigen Augenblick mehr gegönnt und sich für meine erwiesene Unschuld gerächt.
"Ahnst du denn, wer es ist?" fragte der Bottich mit seiner weibischen Stimme.
"Ich habe nur mit den Schultern gezuckt."
Er löffelte den Brei, ich aber kletterte, um mein Glück zu verbergen, in mein Bett und blickte selig zur Zellendecke hinauf.
Bald also wirst du hier herauskommen, dachte ich. Du wirst nach M––– zurückkehren, nicht kurz vor dem Tod, nicht als Greis, sondern bei Kräften und in mittleren Jahren, und wieder ein Leben führen. In welchem Zustand mag der Hof sein? überlegte ich. In viel Zeit kann viel kaputtgehen. Aber ich will es richten.
Das Blut rauschte durch meine Glieder, und mein Körper war leicht, wie ich es bisweilen als Kind erlebt hatte, wenn etwas Gutes bevorstand, eine Reise etwa oder ein Fest, und die Zukunft voller Versprechen war.
Das ist doch etwas anderes als die schwarzen Künste des Bottichs, sagte ich mir.
Eines Tags, es mochte bereits im zehnten oder elften Jahr meiner Gefangenschaft gewesen sein, war er in unsere Zelle gesperrt worden, wo er umgehend sein Geschäft eröffnet hatte. Rund war er, dabei von kleinem Wuchs, mit wäßrigen, tiefblauen Augen und einem breiten, nahezu lippenlosen Mund, der allezeit zu lächeln schien. Am ersten Abend, sobald wir für die Nacht eingeschlossen waren, offenbarte er uns seine Fähigkeit, indem er mitten im Raum eine Tür erscheinen ließ, hinter der eine sonnenbeglänzte Wiese lag. Anschließend hatte er uns nach und nach alles Geld abgenommen, das wir besaßen, und tausend Wohltaten hatte er uns abgepreßt. In regelmäßigen Abständen hungerten wir, um Erlebnisse zu kaufen.
Kowalski wartete ungeduldig, doch erst als alles bis auf den letzten Rest verzehrt war, begann der Bottich sein Werk, während ich mir an die Zellendecke die schönsten Zukunftsbilder malte. Den Himmel auf Erden wollte ich mir erschaffen, und eine ganze Weile verbrachte ich damit, mir ein Versprechen ums andere zu geben.
"So haben wir nicht gewettet!"
Der Bottich schnaubte verächtlich.
"Was willst du für einen halben Napf?" fragte er.
"Wir hatten eine Abmachung!" protestierte Kowalski.
"Und die habe ich erfüllt. Habe ich deine Kinderchen nicht wieder lebendig werden lassen?"
"Keine halbe Minute lang, und gesehen habe ich sie bloß ganz aus der Ferne! Ich weiß nicht einmal, ob sie's wirklich gewesen sind", rief Kowalski.
"Du hast bekommen, wofür du bezahlt hast", erwiderte der Bottich kalt. "Aber es ist noch Brei in deinem Napf."