Der Band enthält folgende Erzählungen


Frau Griese
Der Schneider
Die Handtasche
Die blaue Fackel
Der Magier
In der Gekrümmten Gasse
Das Wartezimmer
Der Diamant
Dämmerung
Fräulein Karuß

Der Schneider


In einer süddeutschen Stadt lebte vor Jahren ein Schneider namens Achaz Bebel. Er war dürr, weil er sich nur von Brot und gelben Suppen ernährte, die Arbeit in gebeugter Haltung hatte ihm den Rücken gekrümmt, und seine schwach gewordenen, von zahllosen Falten umkränzten Augen schauten hellblau durch eine dicke Brille. Da Schneider ebenso rasch welken wie ihre Finger an Hornhaut gewinnen, war sein Alter nicht an seinem Gesicht abzulesen. Die linke Hand aber, die täglich von Nadeln zerstochen wurde, verriet, daß er um die dreißig Jahre zählte und sich nicht über einen Mangel an Arbeit beklagen konnte. Er hatte viele Kunden, in deren Kleidersäumen er feinste Tropfen seines Bluts zurückließ. Trotzdem lebte er in grausamer Armut. Die Kleider, die er selbst am Leibe trug, waren abgewetzt, und die Suppen, die er schlürfte, verdünnte seine Frau, denn der Schneider war mit einem bösen Weib gestraft und hatte ein feiges Herz. Sooft Una vor ihn hintrat und ihn zwang, ihr die Einnahmen Münze für Münze in die Hand zu zählen, klopfte es schwer in seiner Brust; sein Rücken krümmte sich noch mehr, und ein Ausdruck der Angst trat ihm in die Augen, weil seine Frau immerzu neue Wege ersann, ihm etwas anzutun.
Darüber hinaus hatte es dem Teufel gefallen, sie mit großer Schönheit zu begaben. Ihre Augen strahlten, sie hatte volle Lippen, ihr Haar war pechschwarz, und sie tat, was immer notwendig war, um diese Pracht zur Geltung zu bringen. Das Schneiderlein vergoß sein Blut für wohlriechende Wässer, teure Seifen und farbige Stifte, mit denen sie ihr Gesicht bemalte. Einen Schrank voll herrlicher Kleider hatte er ihr nähen müssen, in denen sie gleich einem Edelstein funkelte und blitzte, und wenn sie sich herbeiließ, gemeinsam mit ihm auf die Straße zu treten, bildete ihre Köstlichkeit einen schroffen Gegensatz zu dem eingeschrumpften Männlein an ihrer Seite.
Freilich hatte Bebel so viel zu arbeiten, daß er die Werkstatt kaum verließ und recht eigentlich in ihr wohnte, zumal es ihm verboten war, die anderen Räume des Hauses zu betreten. Nur am späten Abend durfte er hervorkommen, um seiner Frau das Haar zu bürsten und ihre erstaunlich rasch nachgewachsenen Nägel zu schneiden. War dies getan, mußte er in die Werkstatt zurückkehren und sich auf dem Schneidertisch zur Ruhe legen, während Una ihn einsperrte und den Schlüssel zweimal umdrehte.
Bebels einziges Vergnügen bestand darin, seiner Frau jeden Abend einige Haare, die sich in der Bürste verfangen hatten, zu stibitzen, sie hernach auf ein fein gewebtes Tuch zu knüpfen und sich an der wachsenden Fülle zu ergötzen, die gleich einem schwarzen Bach über seine liebkosenden Finger glitt. Tagsüber versteckte er die Perücke in einer Schublade, um sie nachts auf den Kopf einer fleischfarbenen Stoffpuppe zu setzen, die er sich angefertigt und mit zwei grünen Knöpfen als Augen versehen hatte. Dann legte er sich das Menschlein zärtlich auf den Leib und küßte es.


Die Handtasche


"Es wird dunkel."
"Ich hab' Hunger, Felix."
"Wollen die gar nicht mehr aus dem Zimmer kommen?"
"Vielleicht sind sie böse auf uns."
"Es ist ganz still da drin."
"Vielleicht schlafen sie noch. Vielleicht sind sie einfach nicht aufgewacht und haben den ganzen Tag geschlafen."
"Den ganzen Tag?"
"Ich glaub', sie sind krank!"
"Ja, das kann sein."
"Ob wir mal klopfen?"
"Das dürfen wir nicht. Mama sagt: 'Wenn die Tür zu ist, ist sie zu.' Willst du, daß sie uns verprügelt?"
"Aber es wird schon nacht!"
"Kann sein, daß sie gar nicht da sind."
"Sie haben uns alleingelassen? Warum?"
"Ich weiß nicht."
"Was machst du, Felix?"
"Pst! Sei still!"
"Sind sie da?"
"Ich hör' nichts."
"Was, wenn die Mama uns nicht mehr mag und sich andere Kinder geholt hat?"
"Andere Kinder, Bea?"
"Wenn sie uns umtauschen will."
"Du spinnst. Und außerdem – – Hast du das gehört?"
"Ja! Das war eins von den neuen Kindern!"
"Quatsch!"
"Ein Auto kommt und bringt uns fort, in ein Heim, wo all die Kinder wohnen, die man umgetauscht hat. Mama hat mir davon erzählt."


In der Gekrümmten Gasse


Vaters Auto hielt vor dem Haus, ich erkannte das Geräusch des Motors, ein tiefes Knurren, in das sich das Scheppern des Auspuffs mischte. Zwei Stunden hatte ich auf der Treppe gesessen, seit ich von der Schule heimgekommen war und eine Nachbarin mir die Haustür geöffnet hatte. Ich lief zum Eingang und spähte durch das vergitterte Fenster hinaus. Das Auto lärmte, ein sicheres Zeichen, daß heute kein guter Tag sei. Der Opel stieß in die Parklücke, während Vater mit rotem Kopf hinterm Steuer saß und am Lenkrad kurbelte. Mama hatte wie immer auf dem Beifahrersitz Platz genommen, geduckt und mit zusammengepreßten Lippen, eine Einkaufstüte auf dem Schoß. Der Wagen rollte vor und zurück, bis er in der Lücke stand.
Vater griff nach der Zeitung, die auf dem Armaturenbrett lag, stieg aus und warf die Tür zu. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Das Haar hatte sich von der Stirn zurückgezogen, und sein Mund war so schmal, daß es schien, als habe man ihm die Öffnung mit einem feinen Messer in die Haut geschnitten.
"Brauchst du eine extra Einladung?" fragte er.
Mama beeilte sich, aus dem Wagen zu kommen. Sie trug ein grünes, mit Blüten besticktes Kleid, Überbleibsel einer anderen Zeit, an die ich mich schon damals nicht mehr erinnern konnte. Nur ein Haus mit braunen Schindeln und ein Garten, in dem eine blaue Schaukel stand, sind mir im Gedächtnis geblieben, und daß mein Vater damals einen goldfarbenen Mercedes fuhr, der gutmütig schnurrte.
"Wie blöd bist du? Mach' die Tür richtig zu!" schimpfte er, klemmte die Zeitung unter seinen Arm und hinkte um das Fahrzeug herum. Er öffnete die Beifahrertür erneut und knallte sie zu.
Ich trat auf die Straße. Ich wollte die Eltern freundlich begrüßen, denn manchmal gelang es mir, einen Streit zu beenden, indem ich lachte und ein gutes Mädchen war.
Vater antwortete nicht, Mama schaute zu Boden, und schweigend gingen wir ins Haus.
Unsere Wohnung lag im Erdgeschoß. Über einen kurzen Flur gelangte man ins Wohnzimmer, das eine Eßecke enthielt, einen zerkratzten Couchtisch, einen Fernseher, ein graues Sofa, das nach Hund roch, und rote, überweiche Sessel, die nur aus Schaumgummi zu bestehen schienen und deren Nähte in regelmäßigen Abständen mit Zwirn geflickt wurden. An jedem Möbelstück hatten die Vorbesitzer Flecken und Schrammen zurückgelassen.
Das Zimmer war dunkel, zum einen, weil die Wohnung nach Norden ging und kein Sonnenlicht in die Gekrümmte Gasse fiel; zum anderen war den Eltern der Gedanke zuwider, daß irgendein Mensch sich nur auf eine Kiste zu stellen brauchte, um vom Gehweg aus in ihre Räume hineinzusehen. Die Gardinen waren aus blickdichtem Stoff gefertigt, und abends wurde, ehe man das Licht einschaltete, sorgfältig ein dicker Vorhang vor die Scheiben gezogen.
Vom Wohnzimmer aus erreichte man drei Räume: eine Tür führte in die Küche, eine andere ins Schlafzimmer der Eltern; hinter der dritten lag die winzige Abstellkammer, in der das Ungeheuer lebte.


Das Wartezimmer


"Schreiben Sie bitte Ihren Namen auf diesen Zettel, Madame."
Dominique Créneau ergriff den Kugelschreiber, der mit einem Stück Zwirn an der Theke befestigt war, notierte, wie sie hieß, in großen, deutlich lesbaren Buchstaben und reichte das Papier zurück.
"Sehr schön", lobte die Dame auf der anderen Seite der Theke, nachdem sie einen flüchtigen Blick auf den Zettel geworfen und ihn auf einen Nagel gespießt hatte, der von unten her ihren Tisch durchbohrte.
Sie war vielleicht vierzig Jahre alt, hatte blondierte Locken und einen verkniffenen Mund, der sich gleich einem schiefen Strich durch ihr dickliches Gesicht zog. Sie roch nach Zigaretten und der Wurstsemmel, die, halb aufgegessen, vor ihr lag. Madame Créneau entging nicht, daß sie zwischen ihren Sätzen kaute und schluckte. Neben dem Tellerchen mit der Semmel stand ein gefüllter Aschenbecher, dessen grauer Staub sich über den ganzen Tisch verteilt hatte.
"Wollen Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzufügen?" fragte die Angestellte. "Sind Ihnen vielleicht weitere Details eingefallen, die Sie uns mitteilen möchten?"
Madame Créneau schüttelte den Kopf.
"Überlegen Sie sich's."
"Ich habe jede Einzelheit zu Protokoll gegeben", versicherte Madame.
Die Blondine strich sich ein paar Krümel von der Brust.
"Wie Sie meinen. Die Bearbeitung braucht natürlich etwas Zeit. Nehmen Sie solange im Wartezimmer Platz."
Madame Créneau wandte sich in die Richtung, in die der rot lackierte Fingernagel deutete, und erblickte ein schmales Türchen, in das eine Glasscheibe eingesetzt war.
Schon von außen ließ sich erkennen, daß der Raum keine anderen Fenster besaß und überdies sehr eng war. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke. Durch die Scheibe war ein aufgedunsener und unrasierter Mann zu sehen, dessen Gesicht von einem Netz violetter Blutgefäße überzogen war. Indem Madame Créneau sich der Tür näherte und die Hand auf die Klinke legte, hielt er seinen Blick starr auf sie gerichtet und öffnete seinen großen Mund wie ein Fisch.


Fräulein Karuß


Der Kartoffelbauer lenkte seinen Wagen in den Innenhof. Jede Woche erschien er und machte mit einer großen Glocke auf sich aufmerksam, die er minutenlang schellen ließ.
Er war fett und trug eine grobe, braune Hose, an der immer Erde haftete. Seinen Oberkörper bedeckte ein kurzärmeliger, gelbbrauner Pullover, der aber den runden Bauch nicht gänzlich zu bekleiden vermochte und über der Hose ringsum einen handbreiten Spalt blanker Haut sehen ließ. Das gelbe Haar hatte er nach hinten gekämmt, und die Zähne standen ihm schief und lückenhaft im Mund, was jedermann sehen konnte, sooft er gähnte. Er stellte sich neben die Pritsche und rief mit lauter, mißtönender Stimme seine Ware aus.
Vor drei Jahrzehnten hatte er sich bis zum Wahnsinn mit Alkohol vergiftet und im Rausch seine Familie umgebracht: Vater und Mutter, die Ehefrau und beide Kinder, deren Leichen er anschließend auf seinem Acker verscharrt hatte. Für diese Tat war er zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Es dauerte einige Minuten, bis die ersten Frauen ihre Wohnung verließen und mit Eimern und Körben versehen das Treppenhaus hinabstiegen.
Frau Krapp erschien als erste. Sie trug eine gelbe Kittelschürze, unter der ihre Beine kurz und dick hervorschauten. Die Füße steckten in alten Halbschuhen, und wenn sie schwatzte, verschränkte sie die Arme und legte sie auf ihrem Busen ab, als sei er ein prall gestopftes Kissen.
Der Bauer füllte ihren Eimer, nahm hierfür einige Münzen in Empfang und warf sie in eine Blechschachtel, die ihm als Kasse diente. Schon hatte sich vor seinem Lastwagen eine Schlange von Frauen gebildet, unter denen Fräulein Karuß als einzige keine Schürze trug, sondern eine weiße Bluse und einen sehr engen, langen Rock aus schwarzem Leder. Sie war fünfundzwanzig und hatte pechschwarzes Haar. Ihre Augen schauten durch eine strenge Brille.
Um den Schein zu wahren, arbeitete sie drei Tage die Woche als Sekretärin. Ihr Vater, ein ehemaliger Religionslehrer, der vom Lebenswandel seiner Tochter durch einen anonymen Brief erfahren hatte, war eines Tags unangemeldet in ihrer Wohnung erschienen, als sie eben dabei gewesen war, sich einem ihrer Gönner erkenntlich zu zeigen. Die Auseinandersetzung verlief jedoch anders, als ich erwartet hatte: Die schöne Katharina lachte ihren Vater aus. Sie war keineswegs erschrocken darüber, von ihm ertappt worden zu sein, und dachte nicht im Traum daran, einen Schlußstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen, wie er forderte. Stattdessen küßte sie den ältlichen Bankier, der bei ihr lag, auf den Mund. Ihr Vater stolperte das Treppenhaus hinab. Noch im Hof hörte er das Gelächter seines Kinds, dessen Grausamkeit mich faszinierte.